21. März 2016 Miriam Junge

Ghosting: Wenn der Herzensmensch ganz plötzlich verschwindet

Schluss machen ohne Schluss zu machen, genau das beschreibt „Ghosting“. Ein psychologisches Phänomen, bei dem einer den anderen ratlos und verletzt zurücklässt. Was es damit auf sich hat und welche Mechanismen dahinterstecken, erklärt Psychologin Miriam Junge.

Ghosting: Ein modernes Dilemma?

Es scheint ein modernes Dilemma zu sein: „Schatz, ich bin kurz Zigaretten holen“, sprach es und ward nie wieder gesehen.

Was klingt wie ein Satz aus einem Film oder eine urbane Legende, ist ein psychologisches Phänomen: Ghosting.

Eine Person bricht plötzlich den Kontakt mit jemandem ab, ohne Erklärung – beendet eine Beziehung, indem er oder sie einfach verschwindet. Die Person wird nicht mehr erreichbar sein, sich verleugnen lassen und weder auf Nachrichten und Anrufe, noch auf Briefe reagieren.

Die Ghosts hoffen, dass ihre Botschaft auch ohne Worte ankommt

Der sogenannte „Ghost“ meint damit, die Gefühle des anderen zu schützen, aber erreicht genau das Gegenteil und beweist, dass er mehr an sich selbst, als an den anderen denkt. Ghosts hoffen, dass die Botschaft beim „Ghostee“ ankommt – ohne verletzende Dinge sagen zu müssen, wie „Ich liebe dich nicht“ oder „Ich
möchte keine Beziehung“.

Der Ghost verfährt nach dem Motto „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“.

Aber was sollte einen Menschen dazu bringen einfach aus einer Beziehung zu verschwinden – ohne klärende Worte?

Heute scheint es umso leichter Menschen zu verlassen. Genauso leicht, wie man Menschen kennenlernen kann. Mit einem Tinder-Wisch nach links oder rechts entscheiden wir, was gefällt oder nicht. Der oder die nächste wartet schon beim nächsten Online-Portal.

Gespräche wie „Es-liegt-nicht-an-dir-es-liegt-an-mir-aber-war-schön-gewesen“ werden überflüssig. Der Mensch gegenüber wird lediglich als Profil wahrgenommen, weniger als Mensch. Und wenn alles nur einen Wisch kostet, braucht es wenig menschliches Engagement, um ein Kennenlernen oder eine Beziehung zu beenden.

Ist Ghosting das Ergebnis unserer digitalen Gesellschaft?

Aber ist dieses Phänomen wirklich nur mit der Schnelllebigkeit unserer digitalen Gesellschaft zu erklären?

Fest steht: Das Problem liegt beim Ghost. Nicht beim Zurückgelassenen!

Der Ghost ist ein Mensch, der allen Konfrontationen und den damit verbundenen Konsequenzen aus dem Weg geht. Ihm fehlt die Fähigkeit Empathie zu empfinden. Er meint, indem er ein echtes, verbales Schluss-machen vermeidet, die Gefühle des anderen zu schützen.

Dabei übersieht er aber, dass er damit in Wirklichkeit nur Ungewissheit, Verwirrung und am Ende eine noch viel größere Enttäuschung stiftet.

Überforderung, Vermeidung, Flucht

Wenn jemand ohne ein Wort verschwindet, geht er den Weg des geringsten Widerstands. Für das Gegenüber aber ist es das Schlimmste, keine Antworten zu bekommen. Wenn Menschen sich selbst löschen, Handynummer oder gar Kontoverbindung ändern, dann hat das schon etwas von einem persönlich auferlegten Zeugenschutzprogramm.

Der Aufwand, auf diese Weise aus einer Beziehung zu verschwinden, ist zwar um ein vielfaches höher, erscheint dem Ghost aber die einzige Möglichkeit und resultiert aus der fehlenden Bereitwilligkeit sich auseinander zu setzen. Aus einer Überforderung, aus Vermeidung von Kommunikation wird schließlich Flucht. Denn alles scheint leichter, als Konfrontation.

Unterdessen fragt sich der Zurückgelassene, was passiert ist.

Viel Arbeit, Krankheit, ein Unfall? Und als nächstes: Was hab ich falsch gemacht? Warum so plötzlich, ohne Anzeichen? Vielleicht neigte der Ghost zu Schwarz-Weiss-Denken, hat schon immer unter der Devise „Ganz oder gar nicht“ gehandelt. Aber einfach verschwinden?

Der Verlust fühlt sich an wie ein Todesfall

Es ist für den, der sitzengelassen wird, vergleichbar mit dem Verlust durch einen Todesfall. Ein Mensch ist gelöscht, nicht mehr verfügbar, nie wieder. Es gibt also keine Antworten mehr auf die Fragen. Man projiziert ins Leere, Kommunikation ist unmöglich. Beim Tod eines Menschen ist das ganz natürlich. Nur wenn sich jemand aus dem Staub macht, ist es unerklärlich für den Zurückgelassenen.

Man schwankt zwischen Schockstarre, nicht wahrhaben wollen, Zweifel, Trauer und Wut, bis man schließlich eine eigene Art von Akzeptanz für sich findet und damit auch die nötige Distanz zu der Person herstellen kann.

Irgendwann muss man sich vom Drang, krampfhaft zu analysieren lösen

Die Akzeptanz kann hier bedeuten, das für einen selbst Unerklärliche nicht mehr krampfhaft analysieren zu müssen.

Wir erkennen: Jedes Individuum hat verschiedene Mechanismen mit Konflikten umzugehen.

Das Pferd flieht.

Das Raubtier greift an.

Das Chamäleon tarnt sich.

Das Reh erstarrt im Scheinwerferlicht.

Der Mensch hat die Möglichkeit selbstbestimmt zu wählen.

Entscheidet er sich nun aber gegen Kommunikation – für den sprichwörtlichen Gang zum Zigarettenautomaten, hätte man stattdessen wohl doch lieber eine Schluss-mach-Floskel gehört.

„Es liegt nicht an dir.“

Und das tut es in diesem Fall nun wirklich nicht.

Miriam Junge

Ich bin Diplom-Psychologin, psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie, Life-Coach, Autorin & Gründerin.
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